Der See der Adler

Bei den Schelladlern

An einem Julinachmittag fuhr ich wieder einmal zu einem Schreiadlerhorst. Er wurde eine ganz große Überraschung für mich. Weit im Walde gab es eine verschwiegene, idyllische Waldwiese, die den Namen Wildmeisterwiese führte. Hier standen zur Brunftzeit starke Hirsche. Die Wiese entwässerte mit einem Graben zu einem See mit vielen wilden Schwänen. Zwischen der Wiese und dem Seebruch durchschnitt der Graben einen Hügel, und es gab hier hohe und sandige Hänge zu beiden Seiten, die immer von unzähligen Hirschfährten gezeichnet waren. Das Wild kam zum Schöpfen an den Bach, und am Rande der Wiese hatte es auch eine große Suhle in den Boden geschlagen. In dem rechten Ufer des Baches befand sich ein großer und uralter Dachsbau. Der Graben wurde darum nur Dachsgraben genannt. Und an diesem Graben just bei der Suhle stand nun der Horstbaum eines Adlerpaares. Der Baum, ein alter Ahorn, war abgestorben. Er stand mit verdorrten Ästen, mit sich lösender Rinde, mit Fäulnis in den Astwinkeln, mit zum Teil ausgehöhltem Stamm, mit vielen Moosfilzen auf den Ästen und vielen Spechthöhlen als eine rechte Baumruine da.

Schelladler, Foto: Georg Hoffmann
Die Schelladlermutter auf dem Horst

Der junge Adler steckte noch ganz spät im Juli im ersten Daunenkleid. Vor ihm lagen zwei pralle Maulwürfe auf einem Lager von Lindenzweigen. Als ich dieses späte Junge sah und seine Eltern beobachtete, kamen mir Zweifel, ob dieser junge Adler ein Schreiadler war. Sollte ich hier wohl wieder auf einen Horst des Schelladlers gestoßen sein? Der Schelladler ist eine östliche Art und kam in diesem Land der tausend Seen oft genug zur Beobachtung. Nur an sicheren Brutnachweisen hatte es bis dahin noch gefehlt. Und ich wollte es an diesem Horst auch noch nicht sogleich für wahr nehmen. Erst von Tag zu Tag mußte sich der Beweis verdichten, bis zum Schluß der ausgefiederte Jungadler der Bestimmung die letzte Sicherheit geben würde. Es war natürlich sofort selbstverständlich, daß ich mich diesen Adlern in den nächsten Wochen widmete.

Weil ich so oft wie möglich ansitzen wollte und der Anweg mehr als zehn Kilometer betrug, mußte ich mich von einem Helfer unabhängig machen. Nun, der Horst war im Bestand weithin zu sehen. Wenn ich mich ganz vorsichtig bis auf Sichtweite annäherte, konnte ich mit dem Glas erkennen, ob ein Elterntier auf dem Horst anwesend war. Hier wurde nämlich der kleine Adler oft allein gelassen. Waren nun die Eltern "nicht zu Hause", dann lief ich schnell zu einer benachbarten Birke, erkletterte sie geschwind und verschwand im Augenblick in einer Beule am Stamm, die mit grünen Zweigen gut getarnt war. Das klappte ausgezeichnet bis zu dem Tage, an dem es nicht klappte. Doch davon später.

Feiertäglich verharrte der Wald an jedem Morgen hier rings um den Adlerhorst. Zwischen den Säulen alter Buchenstämme, unter dem hellen Grün der durchsonnten Kronen, in dem matten Waldesinnern war kein Laut. Hier und da glitt auf einem schrägen Strahl eine blendende Helligkeit in den Raum lichtgedämpfter, ernster Stille. Durch den Bestand schimmerte der sonnige Rand der Wildmeisterwiese. War ich in meinem Versteck geborgen, dann verloren Zeit und Stunde ihre von uns Menschen vielfach weit übermessene Bedeutung. Es hub ein Sommertag im Leben des Waldes und der Adler an, und den lebte ich ganz als ein Geschöpf dieser Natur mit. Erst die Dämmerung, die ihn abschloß, beendete ihn auch für mich. Mittags lastete die drückende Schwüle auf mir, die auch den Jungadler einschläferte. Und wenn die Sonne ganz herumgewandert war, dann erschien der Winkel in einem neuen schattenreichen Licht. Viele Ereignisse belebten den Tag, kleine, sonst kaum beachtete, und große, die den Atem stocken machten. Ich saß den Tieren des Waldes Auge in Auge gegenüber, und oft genug wiegte der leichte Wind, der um die neunte Stunde mit seinem Rauschen nahte, den alten Adler und mich in der gleichen Baumkrone.

Der 20. Juli war der Tag des ersten Ansitzes. Der Jungadler beachtete mich kaum, als ich aufstieg. Seine kleinen Augen sahen zwar herüber, aber er blieb platt im Horst liegen. Erst nach einer geraumen Zeit erhob er sich und krabbelte im Horst umher wie auf der Suche nach etwas Freßbarem. Plötzlich sprang ein Frosch vor ihm auf, den der alte Adler an diesem Morgen gebracht haben mußte. Der Frosch wagte wie nach dem Satz "Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei" den Sturz in die für ihn schier unermeßliche Tiefe. Zwölf Meter stand der Horst über dem Boden. Ein Weilchen später ließ ein Mäusebussard seinen langgezogenen Schrei hören. Und ehe wir es uns versahen, der kleine Adler und ich, stand der Mäusebussard auf dem Horst, blickte wild um sich, stahl eins von den dort liegenden Beutetieren und war blitzschnell damit verschwunden. Solche Dinge geschahen unter Tieren!

In der Patsche

Es kam ein trüber Nachmittag, und tiefer Schatten lag auf dem Horst. Am Ende zog gar eine düstere Wolke herauf, die den Wald in tiefe Dämmerung hüllte. Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Tropfen fielen. Das Weibchen, das nach der Verfütterung der Schlange abgeflogen war, kehrte auf den Horst zurück. Als der Regen dann mit ungeheuerer Heftigkeit losbrach, da waren beide Adler bald triefend naß. Der Jungadler bettelte. Da stellte sich die Mutter breitbeinig vor den Nachkömmling und wollte ihn unter den Leib schieben. Der Jungadler strebte mit dem Kopf voran unter das schützende Dach. Aber er war jetzt zu groß, um noch unter seiner Mutter Raum zu haben. Die Mutter half nach, ja sie stopfte ihr Kind geradezu unter den Körper. Endlich war es halbwegs untergebracht, und dann kraute sie ihm das Gefieder und wurde selber durch und durch naß. Es regnete, als sollte die ganze Welt im Regen ertränkt werden. Es regnete so sehr, daß der nahe Horstbaum wie hinter einem dichten Schleier undeutlich wurde. Ungeheuere Wassermassen stürzten herab. Das Brausen und Rauschen hielt unvermindert an. Es vergingen zwei Stunden. Der Regen ließ nicht nach. Die Kamera und meinen Rücken hatte ich zur Not mit einer Zeltbahn bedecken können. Aber das Wasser der Baumkrone rann zum Teil gesammelt am Stamm herab und setzte mich völlig unter Nässe. Wenn ich stillsaß, merkte ich sie kaum noch, wenn ich mich aber bewegte, so wurde sie doppelt unangenehm fühlbar. Doch desto mehr teilte ich das Ergehen der beiden Adler auf dem Horst. Wir waren nun unser drei, die den Regenguß ertragen mußten. Aber ich konnte nicht fort, nicht eher, als bis der Adler den Weg freigab. Doch die Finsternis der Regenwolken ging in die Abenddämmerung über, und sicher hatte die Adlermutter die Absicht, schon zur Nacht auf dem Horst zu bleiben. Ich sann auf ein Mittel, sie zu vertreiben, ohne sie zu ängstigen und ohne mein Versteck preiszugeben. Fortgesetztes Wackeln mit dem Objektiv und das Auslösen der Kamera brachten mich nicht weiter, obwohl die Adler sonst sehr empfindlich dagegen waren. Da ging ich zum Pfeifen von Vogelstimmen über. Erst ließ ich einen Waldkauz tremolieren. Der Adler horchte auf, nahm es jedoch für bare Münze. Ich ließ einen Pirolpfiff folgen. Auch der wurde mir geglaubt. So unterbreitete ich nach und nach alle mir geläufigen Stimmen seinem Urteil, zur Prüfung auf ihre Naturähnlichkeit. Und sie fanden seine Zustimmung, obwohl sie sich in der schwarzen Dämmerung eines Mittsommertages seltsam genug ausnehmen mußten. Schließlich verfiel ich auf den Gedanken, ganz vorsichtig zu einer kleinen Liedmelodie überzugehen. Ich hütete mich, sie gerade hinaus zu blasen. Ich pfiff sie leise in die hohle Hand, damit die Richtung nicht zu erkennen war. Gleich bei den ersten Tönen des Liedes sprang der Adler erregt auf den Horstrand und suchte den Pfeifer am Boden des Waldes. Er beugte sich vor und lauschte. Er vermutete das Pfeifen drüben und hüpfte dort sogar auf einen Ast, um das Blattgewirr besser zu durchdringen. Nun hatte ich gewonnenes Spiel. Als er mir fast den Rücken zukehrte, brauchte ich nur etwas stärker zuzupfeifen, damit er vom Horst sauste und ich endlich, endlich hinuntersteigen konnte, nach einem zwölfstündigen Ansitz, durchnäßt bis auf die Haut, steif und mit schmerzenden Knien.

Alle Fotos: Georg Hoffmann