Rund um den Kranich

Am See und im Walde

Nach vielen Jahren vergeblichen Wartens und Hoffens hatte ich endlich in meiner alten Heimat wieder Heimatrecht erhalten. Ich kehrte für immer nun zu den Wäldern und Seen zurück, die ich liebe, seit ich denken kann. Ich hatte mich nach dem Rauschen der Kiefern gesehnt und nach den Gewässern, in denen sich ihre Wipfel spiegeln. Und endlich war jetzt die Zeit gekommen, daß unser Getrenntsein ein Ende nahm.

Es war gerade Frühling geworden, diesmal sehr zeitig. Und der 13. April wendete so viel Licht und Wärme an die Beglückung der wiedererwachenden Erde, daß es ein Frühlingstag voll Wonne und Wohlsein wurde. Und ich hatte Grund genug, über alle Maßen froh zu sein. Ich fuhr an diesem Tage zum ersten Male zu dem See, von dem die Rede ging, er schimmere weiß von wilden Schwänen. Vor langer Zeit hatte ich ihn schon einmal gesehen, und ich erinnerte mich des seltsamen Bildes nur zu gut, wie die Fläche des Sees vom Wind bewegt wurde, der das Wasser zu hohen Wogen antrieb. Und statt daß hier und da eine Schaumkrone sich bildete und wieder zerfloß, trugen die Wellen große, schneeweiße Vögel auf ihren Kämmen. Aus der Ferne war der See wie von einer Unzahl von Seerosen bedeckt erschienen. Es waren damals 509 Schwäne gezählt worden. So etwas hatte es weit und breit nicht gegeben, im ganzen Lande nicht.

Kranichberg, Foto: Georg Hoffmann
Drüben wölbt sich der Kranichberg hinter dem See auf.

Ein Schulkamerad von mir fischte auf diesem See, und ich freute mich darauf, ihn wiederzusehen. Ich war wohl gespannt, ob er mich erkennen würde. Seine Mutter wies mich auf das Feld unten am See, wo er beim Ackern wäre. Ich entdeckte ihn auf einer kleinen Anhöhe, aber er bemerkte mein Kommen nicht. Als ich aber näher kam, stürzte eine große, gelbe Dogge auf mich zu, die er zurückrief. Und da begrüßten wir uns voll Freude. Während wir nun auf dem Ackerrücken standen, wandten wir uns sehr bald dem See zu, den wir von hier oben überblicken konnten. Ich sah durch das Glas und fand ihn von unendlich vielen Vögeln belebt. Die meisten lagen zu entfernt und waren zu klein, als daß ich sie hätte erkennen können. Aber schon allein in dem vorderen Teil wimmelte es von Zwerg- und Gänsesägern, Schell-, März-, Reiher-, Tafel-, Knäk- und Schnatterenten, Hauben- und Schwarzhalstauchern und Bläßhühnern, und immer wieder leuchtete dazwischen das reine Gefieder von Schwänen auf. Darüber kreisten Milane, und ein Fischadler stieß wiederholt in das Wasser, dessen Blau lichter wurde, je tiefer die Sonne sank. Um die Vesperzeit brauste das Wassergeflügel auf, und riesige Schwärme von Enten stiegen hoch hinauf; denn über den See ruderte von dem Wald im Süden zu dem Wald im Norden des Sees ein Seeadler. Das alles ließ der See schon in den ersten Stunden sehen.

Aber dann fragte ich nach den Kranichen, die es am See geben sollte. Und mein Freund, der Fischer, hatte damit noch nicht geendet, zu erzählen, daß ein Kranichpaar im Schilf des Sees gerade vor uns alljährlich sein Nest habe, und daß es hier auf dem Acker sich zu äsen pflege, als wir uns beide zu gleicher Zeit bei den Schultern faßten und auf einen Punkt im Rohr aufmerksam machen wollten. Denn dort ging etwas ganz überraschendes vor sich. Ein Kranich war plötzlich sichtbar geworden. Er hatte sich vom Boden erhoben, beugte sich herab, richtete mit dem Schnabel zu seinen Füßen etwas her, sicherte darnach einmal in die Runde und ließ sich wieder nieder. Und dann steckten Hals und Kopf aus dem Rohr, das im Winter gemäht worden war. Er brütete also bereits. Und er brütete in einem schmalen Streifen Schilfes zwischen See und Wiese. Wenn man nur einen kleinen Kreis um sein Nest zog, so mußten rund um ihn her viele Vogelpaare leben und auch die Wasservögel hier zu seiner engsten Nachbarschaft gehören. Man brauchte sich nur am Kranichnest zu schaffen machen und würde sie alle um sich haben: von Schwan und Haubentaucher bis zum Kiebitz auf der Wiese.

Kranich, Foto: Georg Hoffmann
Kopf und Hals des Kranichs im Schilf.

Seltsamerweise stellte sich heraus, daß es am einfachsten war, vom Wasser aus zum Nest zu gelangen. Denn so unsicher der Schilfrand vorn am freien Wasser auch zunächst erschien, so erwies er sich doch als fest genug, einen Menschen zu tragen, dem ein Versinken im Schlamm kein Kopfzerbrechen verursacht. Wenn das Boot weit genug ausholen und zuerst draußen auf dem See sichtbar werden würde, dann liefe der Kranich geduckt vom Nest und beunruhigte sich nicht über das Anlegen des Bootes, so rechnete ich, Und wirklich hat sich der Kranich um das Boot nicht viel gekümmert. Um so eifriger nahmen jedoch die Krähen von ihm Notiz. Und sie wirkten aus dem, was sie sahen, einen Plan, der ihrer Gerissenheit alle Ehre antat. Sie entdeckten, daß die Zeitspanne zwischen der Flucht des Kranichs und dem Anlegen des Bootes geeignet sein würde, sich des Kranichgeleges anzunehmen. Sie zeigen während der Brutzeit auf dem See ohnehin ein großes Interesse an Booten, vor denen brütende Vögel vom Nest gehen. Aber meinem Boot lauerten sie nun förmlich auf. Kaum, daß ich die ersten Ruderschläge getan hatte, so nahmen sie auf einem Weidenbusch ihren Ausguck ein und faßten den Kranich und das Boot aufmerksam ins Auge. Als sie den Kranich weit genug wähnten, strich eine, die es besonders eilig hatte, zu einem frischen Fraß zu kommen, zum Kranichnest, fußte im Augenblick darauf und hackte, mit dem Kopf mächtig ausholend, auf das Gelege los. Doch da zeigte es sich, daß sie mit Kranichen keine Erfahrungen besaß. Erstens gelang es ihr nicht, die Schale des Kranicheies zu zertrümmern. Und zum andern blieb ihr nicht viel Zeit, das Werk ihrer Raubgier zu vollenden. Der Kranich bemerkte sehr schnell ihr räuberisches Treiben, lüftete seine Schwingen, überflog ungeachtet meiner Nähe den Horst und stieß auf die Krähe herab, daß sie sich, auf das heftigste erschreckt, sofort aus dem Staube machte. Darnach haben die Krähen sich nicht mehr an das Nest herangewagt...

Die Kraniche rufen.

Wenn ein Kranichpaar fliegt, so trägt es seine enge Zusammengehörigkeit offen zur Schau. Einer folgt dem andern dicht auf dem Fuße. Ja, oft schiebt sich der nachfolgende schon seitlich etwas daneben. Wenn sie beim Aufsteigen auseinander geraten, so gelten die nächsten Flügelschläge dem Bemühen, die Entfernung voneinander zu überwinden. Es ist undenkbar, daß der eine den Flug aufgibt, während der andere weiter fortstrebt. Immer werden sie beide dazu ansetzen, zur Erde herabzugleiten. Es müssen sonderbare Dinge geschehen, daß sie sich im Fluge trennen. Sie sind im Fluge eins geworden, wie höchstens noch ein Wildentenpaar. Es ist gleich, ob sie über kurze oder weite Strecken ziehen, immer wird einer dicht beim andern bleiben. Einer führt, und der andere vertraut sich ihm an.

Aber dieses Zusammenhalten im Flug will noch gar nichts bedeuten, wenn es um das Zusammenleben in der Kranichehe geht. Es gibt zwischen ihnen etwas, das auf eine noch innigere Verbindung hindeutet. Und darin gerade sind sie so miteinander verwachsen, daß ihr Tun zu einer Einheit verschmilzt. Das Handeln des einen löst das Handeln des andern sofort aus. Es geschieht kaum, daß die Antwort des zweiten einmal ausbleibt. Und um es rundheraus zu sagen: Es handelt sich darum, daß ein Kranich ruft und der andere sogleich mit seinem Ruf einfällt. Hierzulande wird der Kranichruf mit dem Wort "korlu" gedeutet, Man kennt es nicht anders, als daß der Kranich dieses zweisilbige Wort ruft. Und darum wird er selber der Korlu genannt. Seine Eier sind Korlu-Eier, sein Nest ist ein Korlu-Nest Und wenn die Rufe im Frühling erstmalig über das Land schallen, dann ist der Korlu angekommen, der Korlu, der irgendwo in der Unzugänglichkeit sein Nest hat. Diesen Ruf nimmt jeder hin, wie er ihn hört, zweisilbig korlu, oder in der Erregung auch einmal dreisilbig korlulu, korlulu. Aber wie es sich in Wirklichkeit mit dieser Zweisilbigkeit verhält, das ist bisher noch gar zu wenig beachtet worden. Es ist nämlich so, daß jeder nur eine Silbe drangibt, und daß die beiden, zu einem Paar zusammengeschlossenen Kraniche ihre Silben zusammenfügen. Der eine beginnt mit kor oder krü, und der andere schließt die Silbe lu an. So wird aus den Einzelsilben das Korlu, das wir schlechthin den Kranichruf nennen. Es ist deutlich sichtbar, wie sie aufeinanderfolgend rufen. Stehen sie nebeneinander, so hebt und öffnet erst der eine den Schnabel zu einem einsilbigen Ton, und dann tut es unmittelbar darauf der andere. Wenn sie in stabgerader Haltung hintereinander her fliegen, so wirft erst der vordere Kopf und Hals zu einem Ruf etwas auf und darnach der zweite. Immer schließen sie ihre Silben aneinander. Weilten sie beieinander, so riefen sie auch vereint. Nur wenn einer zur Äsung geflogen und der andere beim Gelege verblieben war, dann geschah es wohl, daß eine einzelne Silbe ausgeschickt wurde, den Partner zu rufen, und daß der Ruf einsilbig klang, bis die Kehle, die die zweite Silbe auszustoßen hatte, herangetragen worden war und in genauester Gemeinsamkeit einstimmte in die Erregung oder die Unruhe oder die Angst, oder was es sonst hinauszurufen gab. Denn wenn der weitab äsende Kranich einen Einzelruf vernimmt, so sagt ihm das deutlich genug, worum es zu tun ist. Und solch ein Einzelruf verkündet nicht nur einem Kranich, daß irgendwo einer dieser großen Vögel allein ist und nach seinem Genossen verlangt. Wer ein Ohr dafür hat, vernimmt es, daß zu einem Kranich der andere fehlt. Und es wird ihm auch bekanntgegeben, wenn sie wieder beieinander angelangt sind. Aber es ist nicht damit abgetan, daß zwei Kraniche sich zu einem Ruf zusammentun, von dem der eine die erste Hälfte ausstößt und der andere die zweite, und das in ganz beliebiger Reihenfolge. Denn die Silben klingen unterschiedlich, auch ist ihre Tonhöhe verschieden, Und es verhält sich derart, daß jedem der Geschlechter eine Silbe mitgegeben ist, und daß der, der über die erste Silbe verfügt, den Anfang macht, während der andere meist wartet, bis ein Ruf des Partners den seinigen nach sich zieht.

Wohl jeder Mensch würde einen so weitgehenden Zusammenschluß der Ehegatten als lästigen Zwang empfinden: Fliegen müssen, wenn der andere fliegt, und rufen müssen, wenn der andere ruft! Der eine tut den Schnabel auf, und der andere muß folgen, und zwar sofort. Der eine sagt A und der andere muß auf die Sekunde genau B hinterher rufen. Aber da zeigt es sich wieder sehr deutlich, daß wir gut daran tun, unsere menschlichen Begriffe daheim zu lassen, wenn es sich um eine Kranichehe handelt. Eine solche Enge des Zusammenlebens und Pünktlichkeit des Zusammenwirkens muß uns unverständlich bleiben. Aber weit komplizierter gestaltet sich das Rufverhältnis noch, wenn bestimmte Empfindungsinhalte zugrunde liegen, Befinden sich denn beide Ehegatten immer in dem gleichen Erregungszustand bzw. in dem Zustand der Beruhigung? Und wenn nicht, wer erregt sich dann zuerst, und wer verleiht der Erregung den Ausdruck?

Es hat etwas zu bedeuten, wenn ein Kranichpaar zu dreisilbigen Rufen übergeht. Sie lassen ein solches Maß von Aufregung laut werden, daß ein besonderer Sinn dieser Äußerung nicht zu verkennen ist. Aber diese besondere Verfassung eines Kranichpaares schwingt nur in der zweiten Silbe aus, die wiederholt wird, und es ist seltsam, wie sich nur einer der Ehegatten daran beteiligt. Scheinbar spielt dieser dreisilbige Ruf eine Rolle in dem Verkehr der Kranichpaare untereinander. Bei Annäherung eines Menschen habe ich ihn nicht gehört, wohl aber wenn ein Kranich das stehende Brutpaar überflog, oder wenn es zu einem anderen Paar stieß oder auch nach dem Tanz während einer Ansammlung von Kranichen. Und dann hatte ich es ja so ausgiebig vernommen, als das Kranichpaar von einem Brutplatz zum andern geflogen war, wie um die eigene Ängstigung allen Kranichen am See mitzuteilen.

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Kiebitz Foto: Georg Hoffmann Haubentaucher,  Foto: Georg Hoffmann
Kiebitz
Haubentaucher
Drosselrohrsänger Foto: Georg Hoffmann Rohrweihe Foto: Georg Hoffmann
Drosselrohrsänger
Rohrweihe

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