Der See der Adler

Ein seltener Fang

An einem Julitag ging ich schon um drei Uhr früh mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken aus dem elterlichen Hause, in dem ich damals in jedem Sommer zu Besuch weilte. Es begann zu dämmern, und alle Menschen schliefen noch. Die Straßen der Stadt waren leer. Um so mehr hallten die Schritte meiner benagelten Schuhe auf dem Pflaster. An einer Straßenecke stieß ich auf einen Polizisten, der die letzte nächtliche Streife ging. In den voraufgegangenen Nächten hatte es in der Stadt mehrere Einbrüche gegeben. Und da mußte dem Polizisten ein Mann mit einem vollgestopften Rucksack um diese nachtschlafende Zeit sehr verdächtig vorkommen. Er hielt mich darum an und fragte streng: "Woher kommen Sie?" "von Hause" , erwiderte ich lachend. Diese Antwort ärgerte ihn, und er stellte weitere Fragen. Nach einer kleinen Unterredung entließ er mich, und ich erreichte gerade noch rechtzeitig das Seeufer. Dort lag das Motorschiff "Ernst" noch am Steg, aber der Kapitän löste schon die Taue. Wir begrüßten uns schnell, ich trat mit einem langen Schritt hinüber, und dann fuhren wir ab - einem neuen Tag und neuen Erlebnissen entgegen. Ich war wie immer bei diesen Fahrten in froher Erwartung, und dabei hatte ich noch gar keine Ahnung davon, welches Abenteuer mir dieser Tag bringen und in welchem Zustand ich am Abend heimkehren würde.

Wir entfernten uns rasch vom Ufer. Je kleiner der Landungssteg erschien, desto mehr ließ sich die Stadt überschauen, die sich hügelan auftürmte. Es war meine Vaterstadt am Südzipfel eines 25 Kilometer langen Sees im seenreichen Nordosten unseres Landes. Von hier aus verkehrte das Schiff am Mittwoch und am Sonnabend so ganz in der Frühe nach einem zweieinhalb Meilen entfernten Dorf, um von dort die Landleute zum Wochenmarkt zu holen. Kurz nach Mittag beförderte sie das Motorschiff wieder heim und nahm Ausflügler mit, deren Zahl vom Wetter abhing. Erst am Abend kehrte das Schiff von dieser zweiten Fahrt zurück. Und nun wollte ich wie so oft schon den Tag über im Walde bleiben, der auf der ganzen Strecke auf dem Westufer des Sees stockte, und am Abend wieder heimfahren. Ich war auf der Hinfahrt der einzige Fahrgast.

Das Wasser des Sees sah in der Morgendämmerung tiefschwarz aus und war völlig glatt. Doch bald nach der Abfahrt zeichneten sich kleine Ringe ab - hier einer und dort einer. Es wurden immer mehr. Es regnete! Und als es hell wurde, war der Himmel grau verhängt. Der Regen wurde immer stärker, und meine Freude auf einen sonnigen Tag in der Natur wollte mehr und mehr hinschwinden. Ich sprach mit dem Kapitän über das Wetter. Er verstand gewiß mehr davon als ich. Aber er drückte sich um eine genaue Antwort. Wahrscheinlich wollte er mir die Freude nicht verderben. Derweil schlug der Regen in starken Böen auf das Verdeck und an die Scheiben der Kajüte. Wir waren eineinhalb Stunden gefahren, als am Waldufer ein wackliger, kleiner Landungssteg in Sicht kam. Das war mein Ziel. Der Kapitän fragte: "Soll ich anlegen? Oder kommen Sie lieber wieder mit zurück?" Ich zögerte mit meiner Antwort. Es regnete gerade besonders stark, ja die ganze Welt troff richtig von Nässe. Nichts deutete auf eine Wetterbesserung hin. Indessen hatte ich von meinem Vater allerlei Sprüchlein über das Wetter gelernt. Und eines fiel mir jetzt gerade ein - sicherlich ganz zur Unzeit. Es lautete: "Frühregen und Altweibersommer dauern nicht lange!" Und es gab mir den Mut, mich dem Wetter auszuliefern. Ich warf den Rucksack auf den Rücken, sprang auf den Steg hinüber, ohne daß das Schiff richtig anlegte und stiefelte mit hochgeschlagenem Kragen in den Wald hinein. Hui, war das trübe! Hui, war das naß und kalt dazu! Ich wanderte einen Kilometer um den anderen, bald durch Schonungen, bald durch Hochwald. "Jm Walde regnet es zweimal", sagte der Fuchs und zog zu Felde. Auf mich aber tropfte es von allen Bäumen, und das Gras schlug die Nässe ganz schnell durch das Stiefelleder. Nach zwei Stunden Fußmarsch bog ich in einen Hochwald ein und kam hier wieder an das Seeufer. Und das war der Ort, den ich an diesem Tage aufsuchen wollte. Hier standen Kiefern, die mehr als einhundert Jahre alt waren. Ihre Kronen rauschten leise in dem schwachen Wind, der sich erhoben hatte. Und dazu rauschte nach wie vor der Regen.

Die Schilfecke, Foto: Georg Hoffmann
Die Schilfecke

Durch dieses Rauschen drangen von oben her heisere Schreie. Sie kamen von den Fischreihern, die auf den Kiefern viele Nester hatten und die dort jetzt ihre Jungen aufzogen. Immer wieder flogen die großen, grauen Vögel von weither an. Sie hielten den Hals im Fluge wie ein S gebogen und an den Körper gelegt und streckten die langen Beine nach hinten von sich. Wenn die anfliegenden Reiher mich gewahrten, warfen sie sich in der Luft erschreckt auf die Seite, flohen ein Stück zurück und steuerten dann in einem Bogen zu ihrer Kolonie. Hier bei den Reihern wollte ich den Tag zubringen, um Beobachtungen und Aufnahmen zu machen. Doch zunächst regnete es immer noch, und dabei war nun wirklich nichts zu beginnen. Darum suchte ich mir am Ufer einen Platz unter einer alten, dicken Buche, um auf das Ende des Regens zu warten. Es war kalt, meine Kleider waren naß, und ich fror - mitten im Sommer. Ich sah auf das Wasser, auf dem der Regen sprühte. Es gab stundenlang nichts weiter zu sehen, und ich gähnte einmal über das andere. Gegen den Regen bot der Baum längst keinen Schutz mehr, im Gegenteil: er sammelte das Wasser und goß es in doppelt großen Tropfen und Rinnsalen auf mich aus. So hockte ich zusammengekauert und regungslos mehrere lange Stunden. Die Reiher hatten mich vergessen und alle anderen Tiere des Waldes auch. Und dann kam auf einmal das große Abenteuer. Die Müdigkeit war wie weggeblasen, ich spürte die Nässe nicht mehr, und ich freute mich, im Regen draußen geblieben zu sein.

Der See hatte fast überall einen Schilfsaum. Aber rechts vor meinem Platz endete der Schilfsaum, und das Ufer vor mir war eine kleine Strecke weit kahl. Zufällig blinzelte ich beim Dösen auf die Schilfecke zur rechten Hand. Und dort erschien plötzlich ein schwarzer Schwimmvogel, der etwa die Größe einer Wildgans hatte. Ich hatte ein solches Tier noch nie zu Gesicht bekommen. Es schwamm eigenartig. Es lag mit dem Körper tief im Wasser, und darum schleifte sein starker und breiter Schwanz wie eine Schleppe nach. Und seinen Kopf mit dem recht langen Schnabel hielt der Vogel schräg aufwärts, so wie ein hochmütiger Mensch seine Nase hebt. Schwapp - weg war er. "Das war ein Kormoran!" schoß es mir durch den Kopf, und ich sprang sofort auf, denn ich hatte nur den einen Wunsch, den Vogel noch einmal recht genau zu sehen.

Kormoran, Foto: Georg Hoffmann
Der gefangene Kormoran
Ich stürzte an das Ufer und starrte auf das Wasser, das hier am Rande flach war. Ganz schnell ließ ich meine Augen hin und her gehen. Da bewegte sich dicht vor mir eine kleine Welle auf dem Wasser. Sie bewegte sich auf einen Baum zu, der in das Wasser gestürzt war. Der Vogel schwamm so dicht unter der Oberfläche, daß er diese Welle dabei erzeugte. Er hatte die Absicht, unter dem Baum hindurchzutauchen, aber das konnte nicht gelingen, denn der Raum zwischen Stamm und Seegrund war viel zu eng. Also mußte der Vogel im nächsten Augenblick wenden. Ehe er die Wendung ausführen konnte, sprang ich ohne zu überlegen mit allen Kleidern in den See, warf mich auf den Vogel und packte ihn. Das war eine Beute! Hocherfreut erhob ich mich aus dem Wasser, nahm den Kormoran so unter den Arm, wie seinerzeit Hans im Glück seine Gans getragen hatte, und kletterte aus dem Wasser. In meinem Glücksgefühl vergaß ich leider alle Vorsicht, und als ich mich beim Erklimmen des Ufers ein wenig vornüberbeugte, langte der Vogel mit seinem scharfen Schnabel blitzschnell in mein Gesicht. Der lange Oberschnabel endigt in einen scharfen Haken, wohlgeeignet zum Erbeuten der schnellen und glatten Fische. Es kann sich jeder vorstellen, was für eine Waffe solch ein Schnabel ist. Er hatte damit in mein rechtes Auge gezielt und hier genau daneben in den Augenwinkel getroffen. Dann hatte er mit dem Schnabelhaken die Nase "von der Wurzel bis zum Gipfel" aufgerissen. Wie mich das erschreckte! Beinahe wäre es um das Auge geschehen gewesen! Ich schalt mich wegen meiner Unachtsamkeit. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz unter dem Baum, nahm den Kormoran auf den Schoß und wartete weiter auf das Ende des Regens, um den seltenen Fang auf die Platte zu bringen. Blut und Nässe tropften von meinem Kopf. Der Kormoran schlug nach meinem Handrücken, so daß auch er schließlich blutete. Die Zeit unseres Zusammenseins nützte ich aus, das Tier genau zu betrachten. Einiges fiel mir ganz besonders auf. Bei den Menschen gibt es blaue und graue und braune Augen. Und bei einigen Vögeln sind die Pupillen gelb und orangerot eingefaßt. Aber dieser Kormoran blickte mich mit knallgrünen Augen an. Der Blick schien darum irgendwie heimtückisch. Und die Federn des Vogels waren durchaus nicht schwarz, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte, sondern sie schillerten in mehreren Farben. Auf dem Rücken waren die Federn bräunlich, und alle waren schwarz gesäumt. Sie wirkten darum wie Schuppen. Und was hatte der Vogel doch für mächtige Ruderfüße! Zwischen den langen Zehen waren große Schwimmhäute gewachsen, wie ich sie bei keinem Schwimmvogel bisher gesehen hatte. Was für Schwimmstöße mußte dieses Tier damit ausführen können! Immer wieder betrachtete ich diese großartigen Schwimmwerkzeuge.

Der Kormoran war inzwischen zur Ruhe gekommen. Ich ließ seinen Schnabel los, und er schlug mich nicht mehr. Und als ich ihn ganz freigab, blieb er wie zahm auf meinem Schoße stehen. Nun hatte ich keine Geduld mehr, noch länger zu warten. Ich entnahm dem Rucksack die Kamera, bedeckte sie vor dem Regen mit meinem Rock, stellte den Kormoran auf einen Baumstumpf, und er blieb dort in seiner eigenartigen Haltung mit erhobenem Schnabel stehen. Als mehrere Aufnahmen gemacht waren, wurde der Vogel müde und steckte seinen Schnabel in das Rückengefieder, um zu schlafen. Zu jeder weiteren Aufnahme mußte ich ihn jetzt wecken. Am Ende zog ich ihm einen Ring auf den Ständer, ließ ihn frei und zog mit blutverkrustetem Gesicht meine Straße.

Alle Fotos: Georg Hoffmann

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