Das verlassene Dorf
Nach den begeisterten Schilderungen mußte es ein wahres Paradies sein. Angeblich gab es dort in der weltentlegenen Einsamkeit nur zwei Häuser: Ein niedriges Arbeiterhaus, aus dicken, altersschwarzen Bohlen gefügt, und ein Forsthaus mit Geweihen am Giebel und riesenhohen Fichten vor dem roten Dach. Und dicht bei diesen beiden Häusern sollten Seen liegen, gleich zwei an der Zahl, und nur um eine Waldecke herum noch ein dritter viel größerer, und von diesem wiederum nur durch eine schmale Landenge getrennt noch ein vierter, so groß wie die drei ersten zusammengenommen, und nach Norden zu noch ein fünfter, aus dem überhaupt das Fließ kam, das diese Seen untereinander verband. Der unendlich große Wald ringsum halte dieses Fleckchen Erde mit seinen fünf Seen ganz verborgen. Darum erfülle eine überirdische Ruhe die Abende auf dem Hügel bei den beiden Häusern. Darum gehe der Morgen hier köstlich frisch und rein auf, und auch über den Tagesstunden liege ein feiertäglicher Frieden.
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Einst Gutshaus - |
- jetzt Försterei |
Natürlich breiteten sich solche Ruhmreden aus, und es geschah immer wieder, daß sich Wanderer einstellten, die dieses glückliche Eiland der Abgeschiedenheit zum Ziel erkoren hatten. Es bildete sich sogar eine Art Stammkundschaft heraus. Da kam in jedem Mai ein junger Dirigent mit seinem Frauenchor, den er hier einmal aus der Gängelei der Übungsarbeit entließ. Es kamen in jedem Sommer zwei Jungfrauen, die das Schwärmen gekriegt und ihr Herz nun an diese Landschaft gehängt hatten. Und endlich kam auch einmal eine Lehrerin mit ihrer Mädchenklasse hierher. Aber diese Wanderung zeigte, daß auch das Einfache manchmal schwer sein kann, und daß manches Ziel sich arg suchen läßt, ehe es sich ergibt.
Fröhlich, wie es sich für eine junge Schar geziemt, hatten sie ihre Wanderung angetreten. Fröhlich hatten sie den Wald durchmessen. Aber als es zum Abend ging, wäre es ihnen lieb gewesen, dem Ziele näherzukommen. Doch weder kündigte sich irgendwo eine Lichtung an, noch ließ ein Hausdach sich blicken. Der letzte Sonnenstrahl verglomm rot und feurig in den Kiefernkronen, die Dämmerung senkte sich hernieder - und weniger als je zuvor war ein Ausweg zu erkennen. So mußten sie sich zur Nacht rüsten, zur Nacht unter freiem Himmel. Eng aneinandergeschmiegt setzten sie sich, an die Stämme gelehnt, nieder. Wer einen Überzug hatte, der teilte ihn mit dem, der keinen hatte. Hosenbeine, die für ein Bein berechnet waren, mußten es sich gefallen lassen, daß zwei Kinderfüße darin Schutz suchten. Manch Kindlein hat hier seinen ersten Schlaf im tiefen Walde getan. Man fror, man wurde naß vom Tau und rappelte sich in aller Frühe auf. Man marschierte drauf zu und sah sich nach einer kurzen Strecke - bei den beiden einsamen Häusern im Walde! Ohne Mühe wären sie am Abend zu erreichen gewesen.
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Heute glauben wir, für den Abend ein paar ruhige Stunden verdient zu haben. Wir machen uns "fein" und gehen zur Försterei zu Besuch. Dort sitzen wir draußen bei einer Flasche Wein und genießen den Abend, der von einem berauschenden Lindenduft erfüllt ist. Bald treten Rehe auf die Wiese beim Forsthaus, und plötzlich schweben neun Kraniche lautlos am Haus vorüber und gehen bei den Rehen nieder. Ein Fuchs maust nicht weit von ihnen, und vom kleinen See her ist ein Tüpfelsumpfhuhn zu hören. Morgens ist Rotwild auf der Wiese gewesen, und den Tag über hat sich der Schreiadler mehrmals eingestellt. Ist dieses nicht ein ganz außergewöhnlicher Ort? Man sitzt vor dem Hause und hat Kranich und Schreiadler, Hirsch, Reh und Fuchs vor den Augen! Und dann streichen wohl Stein- und Seeadler darüber hin, auch Schwarzstorch und Schwan!
Natürlich sprechen wir an diesem Abend von nichts anderem als von dieser Natur und den Verhältnissen, die sie in dieser reichen Weise herbeiführten. Der Förster weiß vieles von dem versunkenen Dorf, das einst hier stand. Und viel erfahre ich später von alten Leuten, deren Jahre noch zurückreichen bis vor die Zeit, in der das Dorf verschwand.
Der Gutsbesitzer, ein Herr über 3000 Morgen Acker und Wald, über 20 Arbeiterfamilien und eine Glasbläserei, hat weder lesen noch schreiben können. Er hatte für seine Buchführung alle möglichen Zeichen und verließ sich im übrigen auf seinen Buchhalter und vor allem auf seinen eigenen Kopf. Und der scheint nicht übel beschaffen gewesen zu sein; denn das Unternehmen wuchs und gedieh. Und was gab es nicht allein an dieser Stelle hier zu bedenken! Da war die Glasbläserei, deren Erzeugnisse bis nach Elbing und Königsberg rollten. Vier Fuhrwerke dienten allein dem Transport der Glaswaren. Und viel Fuhrwerk war notwendig, um Sand und Holz heranzuschaffen, welches beides der Glasbetrieb in großen Mengen verschlang.
Aber da standen die Kleinbauern aus dem Dorf am großen See im Osten bei ihm mit ihren Fuhrwerken in Lohn. Das Holz kaufte er in den Staatsforsten, weil es dort wenig preiste, und weil er seinen Wald dann schonen konnte. So berechnete er alles aufs genaueste und lenkte den großen Betrieb, trug die Verantwortung über das Wohl und Wehe von viel mehr Familien, als bei ihm wohnten. Die Glasbläser waren seine Sorgenkinder. Sie waren ein wildes Volk, Das Wirtshaus lag aber auch unmittelbar neben ihren Wohnungen, und sie hatten es nicht weit, ihre Groschen zum Wirt zu bringen und ein wüstes Leben zu führen. Die Wirtshauslinde steht noch heute am Judengraben, wo dieser in die sumpfige Südostecke unseres Sees mündet.
Zur Stunde sitzen wir also an seinem Haus; denn nun ist dieses Gutshaus eine Försterei geworden und ist just noch das alte Haus: niedrig und langgestreckt, altersgrau und mit den nämlichen alten Bäumen vor der Tür. Und drüben jenseits des Weges steht ein langer Stall, Der bildete mit zwei weiteren Wirtschaftsgebäuden das Viereck des Gutshofes.
Und als wir in der Dunkelheit zur Fischerhütte zurückwandern, gehen wir an all den Stätten entlang, die damals bebaut waren: Hier stand die Glasbläserei, dort der Glasspeicher, hier ein Arbeiterhaus neben dem anderen, dort die Schule und endlich am See im Walde das Wirtshaus und das Haus der Glasbläser. Hier bilden die verschütteten Fundamente noch hohe Buckel im Boden. Wessen Einbildungskraft würde da nicht aufleben und versuchen, das Dorf wieder erstehen zu lassen und es mit seinen Menschen zu beleben? Und gar hier am Ende des Dorfes bei den Fundamenthöckern in der Grasnarbe, wo es jetzt am stillsten und einsamsten ist, da ist es damals am lautesten zugegangen. Wir bleiben stehen und sinnen dem Vergangenen nach. Warum ist es eigentlich vergangen? Das werden wir später erfahren.
Auch die Wirtshauslinde duftet jetzt stark. Und da die alte Allee hinauf noch viele Linden stehen, so ist auch hier überall der Abend ein Duften, das die Lunge begierig aufnimmt. Lau und still ist die Nacht, und unendlich viele Leuchtkäfer schweben gleich fliegenden Fünkchen auf und nieder.
Nun ist es uns allen geläufig, daß die Entwicklung diesen Gang nimmt: Das Land wird immer enger besiedelt; Stück für Stück verfällt es einer immer intensiveren Bewirtschaftung; die weiten Flächen ohne Haus und Ortschaft verschwinden mehr und mehr, und damit verlieren viele Tierarten ihren Lebensraum, nämlich den für sie notwendigen Abstand zum Menschen. Die noch halbwegs ursprüngliche Natur wird auf immer engere Räume verwiesen - kurzum, der Mensch breitet sich aus, und gewisse Teile und Zustände der freien Natur werden zurückgedrängt.
Aber hier im Walde ist die Entwicklung einmal doch den umgekehrten Weg gegangen, indem der Mensch ein Stück des Landes, das er vor Zeiten ganz mit Beschlag belegt und sogar mit der Unruhe einer Industrie erfüllt hatte, wieder räumte, daß Häuser und Anlagen darin verfielen, daß das Ackerland wieder Wald wurde, und daß dann die Tiere von diesem Raum Besitz ergriffen, und zwar viel zahlreicher und artenreicher als je zuvor. Ja, Natur und Landschaft erstanden in einer seltenen Fülle und Pracht.
Alle Fotos: Georg Hoffmann
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